Körperhaltung und Motorik

Elektrophysiologische Untersuchungsmethoden, ereigniskorrelierte Potentiale


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© H. Hinghofer-Szalkay
Elektroencephalogramm: ἤλεκτρον = Bernstein (erste Beobachtung von Elektrizität), ἐγκέφαλον = Gehirn, γραφή = Aufzeichnung
Elektromyogramm: μυς, μυός = Muskel, γραφή = Schrift, Aufzeichnung
Libet-Versuch:
Benjamin Libet




>Abbildung: Prämotorischer Anstieg des Bereitschaftspotentials

Das gemittelte Potential steigt an, bevor die Handlungsabsicht bewusst wird (Start der Bewegung: Sekunde null)



Wodurch wird eine "Willkürbewegung" ausgelöst?
Welche Teile im Gehirn werden als erste aktiviert, wenn es (im Anschluss daran) zu einer motorischen Aktion kommt? Gibt es einen freien Willen? Solche Fragen werden durch Ableitung zerebraler
Bereitschaftspotentiale untersucht.

Da diese Signale sehr schwach sind und im Spontan-EEG untergehen, werden sie durch Mittelung mehrerer (durch den Zeitpunkt der motorischen Aktivität synchronisierter) EEG-Strecken errechnet (ähnlich wie evozierte Potentiale, nur retrograd). Man bezeichnet dieses Mittelungsverfahren als "averaging"; es werden zahlreiche Einzelregistrierungen addiert, bis sich die nicht mit dem Bereitschaftspotential ursächlich verknüpften Zufalls-Ausschläge im EEG gegenseitig herausmitteln.

Dabei zeigt sich, dass bereits etwa eine Sekunde vor Beginn einer Handlung Änderungen im elektrischen Feld einer entsprechenden Hirnregion auftreten.

Geht dem Bereitschaftspotenzial eine willkürliche Entscheidung voran?

Der Libet-Versuch soll darauf eine Antwort geben: Der Proband sitzt vor einen Bildschirm, auf dem sich ein Lichtpunkt mit einer konstanten Geschwindigkeit von 360° in 2,5 sec
im Kreis bewegt (sog. Wundt’sche Uhr, <Abbildung links). Der Proband führt zu einem beliebigen Zeitpunkt eine Bewegung aus und gibt den Moment, in welchem er sich für die Bewegung entscheidet, durch Angabe des Winkels des Lichtpunktes an.

Es werden die Zeitpunkte des Beginns des Bereitschaftspotenzials (aus EEG gemittelt, Abbildung rechts), des Bewusstwerdens einer Bewegungsabsicht, und des Beginns der Bewegung verglichen. Der Libet-Versuch beweist, dass (unter diesen experimentellen Bedingungen) die Bewegung bewusst erst "gewollt" wird, wenn das Gehirn bereits unbewusst die Intention zu dieser motorischen Aktion "vorbereitet" hat. Der "freie Wille" fußt also in einer dem Bewusstwerden vorausgehenden Planung. Andererseits lässt sich eine bereits "getriggerte" Bewegung kaum mehr aufhalten ("Automatismus" vom Gehirn "freigegebener" Bewegungsabläufe).

Ereigniskorrelierte Potentiale (EP) sind aus dem EEG-Muster gemittelte Potentialverläufe, die mit einem Ereignis (motorisch oder sensorisch) ursächlich zusammenhängen. Zur Mittelung ist die oftmalige Wiederholung des Versuchs und genaue Synchronisierung der EEG-Strecken nach Maßgabe des Zeitpunkts, an dem das Ereignis auftritt, notwendig. Handelt es sich um die Reaktion des Gehirns auf einen sensorischen Reiz, so erfolgt der Potentialverlauf nach Auftreten des Ereignisses (welches das Potential ja verursacht hat: Sensorisches EP; visuell, akustisch etc.). Handelt es sich um einen Potentialverlauf, der einem motorischen Ereignis (einer Muskeltätigkeit) zuvorkommt, spricht man von einem prämotorischen Potential (Abbildung oben).


>Abbildung: Nichtinvasiver elektromyographischer Versuchsaufbau

Oberflächenelektroden sind über Muskeln (hier; Bizeps und Trizeps) an der Haut befestigt. Alle Elektroden liegen an differenten Positionen, daher sind die Ableitungen bipolar. Eingeblendet ist eine Originalregistrierung; Aktivierung des Muskels führt zu elektrischen Entladungen motorischer Einheiten



Aus einem Elektromyogramm (EMG) kann man z.B. in der Sportphysiologie die Aktivierung einzelner Muskeln bei Bewegungsabläufen ersehen. In der neurologischen Anwendung kann man aus dem EMG diagnostizieren, ob eine Myopathie (Schädigung von Muskelzellen) oder Neuropathie (Schädigung von Nervenfasern) vorliegt.

In diesem Fall kann es notwendig sein, präzisere Ableitungen vorzunehmen. Dazu werden feine Metallelektroden (isolierte Drähte mit freier Spitze) direkt in das Muskelgewebe vorgeschoben, Blutungen sollten dabei vermieden werden. Die abgeleiteten Aktionspotentiale zeigen die Aktivität einer räumlich begrenzten Gruppe von Fasern, die zu einer oder nur wenigen motorischen Einheit(en) gehören.

Die Fasern einer motorischen Einheit werden von “ihrer” Vorderhornzelle jeweils synchron angeregt, und ihre gemeinsame Entladung führt zu ein-bis dreiphasigen Summen-Aktionspotentialen, die zur Untersuchung der Muskelfunktion mittels Oberflächenelektroden (von der Haut) oder eingestochenen, isolierten Drähten (aus dem Muskel) abgeleitet werden können; das Ergebnis nennt man Elektromyogramm.

Mit zunehmender Kontraktionsstärke nimmt die Zahl der aktivierten Vorderhornzellen und ihre Entladungsfrequenz zu; es werden immer mehr motorische Einheiten rekrutiert. Bei intensiver Kontraktion lassen sich die Potentialverläufe einzelner motorischer Einheiten nicht mehr differenzieren, sie überlagern sich zu einem Interferenzmuster.




Eine Reise durch die Physiologie


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